„Alles“ ist ein großes Wort
Das Wort „alles“ fordert mich heraus. Bei „All you can eat“ oder
„all-inclusive“ ist klar: Da ist alles dabei. Oder vielleicht besser: Da scheint alles drin zu sein. Wie ist das allerdings bei „alles Mist“ oder „Ich liebe dich über alles“? Da ist "alles" ein sehr großes Wort – „alles“ bedeutet letztlich ausnahmslos. Das ist schon sehr gewichtig und lässt mich zunächst etwas ratlos zurück.
Wenn „alles in Liebe“ geschehen soll, bedeutet das im Umkehrschluss: Die Antwort auf alle Fragen, Themen, Herausforderungen und in allen Unstimmigkeiten ist „Liebe“? Ich stelle an mir selbst fest, so leicht und eingängig die Jahreslosung – „alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ – ist, so sehr fordert sie mich heraus.
„Es geschehe in Liebe“ – okay, das kann ich mir vornehmen und umsetzen. Aber „alles geschehe in Liebe“? In mir pulsiert eine Mischung aus: Ich stimme voll zu und eben auch nicht. Zumal ich Sorge davor habe, dass „alles Liebe“ auch eine zu einfache Antwort sein könnte. Und zugleich bin ich tief berührt: Wie verheißungsvoll klingt „alles aus Liebe“ in einer Welt, voller Konflikten und Streit, Krieg und Machtmissbrauch, Missachtung und Überheblichkeit, Bereicherung und Übervorteilung. Wie wäre das großartig. Auch für unser Miteinander in der Familie, in der Schule, mit dem Nachbarn usw. Wie das gelingen kann, ist mir noch nicht ganz klar.
Noch nie einfach gewesen
Ich überlege weiter. Moment mal. Wer schreibt da an wen? Paulus an die christliche Gemeinde in Korinth. Die hatten viel Stress miteinander: Neid, Eifersucht, es ging um Macht und Parteibildung, manchmal mehr Gegen- als Miteinander. Und der Umgang der Korinther mit Paulus war oft sehr problematisch. Es knirschte im Gebälk, es wurde kritisiert, diffamiert, diskreditiert, Paulus als Mensch infrage gestellt. Und eben dieser Paulus ermahnt die Korinther, alles in Liebe zu tun.
Aber ich fühle doch ganz anders
Gefühle sind so wichtig. Liebe ist doch zuerst ein Gefühl, oder? Zumindest wenn der Eindruck stimmt, dass wir als Menschen Dinge nur dann aufrichtig tun können, wenn wir etwas fühlen oder eben nicht aufrichtig tun können, wenn wir nichts fühlen. Was bedeutet das, wenn alles, was wir tun, in Liebe geschehen soll?
Letztens habe ich gelesen: „Wir können durch unser Handeln viel schneller eine neue Art zu fühlen hervorrufen, als wir durch unsere Gefühle eine neue Art zu handeln erlernen" [1].
Wenn das so ist, dann haben wir beides: viel Potenzial, die Jahreslosung 2024 ins Leben zu bringen und zugleich einen herausfordernden Weg in der Umsetzung vor uns. Denn Gefühle scheinen gerade nicht handlungsleitend zu sein. Auch nicht, wenn es um diese Liebe geht.
Sich für die Liebe entscheiden
Diese Liebe, von der Paulus schreibt, scheint eher eine Entscheidung jenseits der eigenen Emotionen und Gefühle. Auf die Liebe setzen ist eine Entscheidung.
Alles von euch geschehe in Liebe
Nimmt man unseren Vers genauer in den Blick, so überrascht zunächst, dass er im griechischen Original anders klingt: „Alles von euch geschehe in Liebe“ hat Paulus geschrieben. Ich bleibe bei diesem Gedanken hängen: In der deutschen Übersetzung hat das Tun einen starken Fokus. Die Liebe scheint sich ausdrücklich (und explizit?) dort zu ereignen, wo wir etwas tun.
Doch eigentlich ist dieses „alles“ viel größer: Wenn alles in Liebe geschehen soll, dann gilt das auch für Blicke, Gedanken, Worte. Kein Gedanke über andere, kein Gespräch mit anderen über dritte, all das nicht ohne Liebe. Nichts soll ohne Liebe sein. Es geht um Liebe mit allen Sinnen. Die Formulierung von Paulus macht vor nichts Halt. Sie umfasst sprichwörtlich alles. Alles in Liebe. Sie ist die Antwort auf alle Fragen.
Agape – die besondere Liebe
Die deutsche Sprache kennt leider nur den einen Begriff der Liebe, mit dem wir versuchen, Emotion und Entscheidung, Liebe zum Nächsten wie die einer Liebesbeziehung auszudrücken, Schmetterlinge im Bauch, tiefe Zuneigung, einvernehmlicher Sex, alles das ist Liebe. Vielseitiger und ausdrucksstärker ist die altgriechische Sprache, in der die Texte des Neuen Testaments geschrieben sind. Dort wird unterschieden zwischen Philia, Eros und Agape. Philia wird verwendet, wenn es darum geht, z.B. Freundschaft zu beschreiben. Es kann auch einen freundschaftlichen bzw. geschwisterlichen Kuss bedeuten. Eros steht für den gesamten Bereich der Erotik: Sexualität zählt hierzu ebenso wie Gefühle, die man für eine andere Person empfindet, in die man verliebt ist, also auch jene „Flugzeuge im Bauch“, die sich so schwer erklären lassen.
Und da ist Agape. Im Neuen Testament wird sie verwendet für die Liebe zu Menschen, teilweise auch zu Inhalten wie z.B. zur Wahrheit oder zu Gott selbst. Die Jahreslosung rückt das menschliche Miteinander in den Fokus. Immer wieder werden Christ*innen in verschiedenen Passagen des Neuen Testaments nicht nur daran erinnert, sondern dazu aufgefordert. Sie steht mehr für Entscheidung denn für Emotion. Es geht bei ihr gerade nicht um Gefühle, mehr um ein Wollen. Sie ist selbstlos, achtet zuerst darauf, was anderen dient, fragt nicht nach eigenem Nutzen. Paulus selbst führt dies in besonderer Weise in 1. Korinther 13 im sogenannten Hohelied der Liebe aus. Diese Liebe lässt sich auch so verstehen, dass wir anderen dienen, für sie eintreten, Gutes suchen. Alles geschehe in Agape.
Wie das möglich werden kann? Weil wir uns in Christus zuerst geliebt wissen. Vor allem anderen sind wir von Gott geliebte Menschen. Das macht die Liebe zu anderen erst möglich„Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt“, schreibt Johannes in seinem ersten Brief
(1. Johannes 4,19). Dieses „zuerst“ ist von existentieller Bedeutung. Jenes besondere, außergewöhnliche und bedingungslose Liebesverhältnis Gottes zu uns Menschen ist Grundlage dafür, dass wir lieben können (und sollen). Zuerst von Gott geliebt macht es möglich, andere zu lieben. In dieser Reihenfolge denkt Jesus, aber auch Paulus oder Johannes oder Petrus. Lasst uns das nicht vergessen.
Diese Liebe macht übrigens auch vor Feinden nicht Halt.
Appelle vermeiden
Der größte Fehler, den wir machen könnten, wäre, wenn wir uns in Appellen verlieren würden. In „machen, müssen, tun oder das gehört sich so“. Wie kann es uns gelingen, junge Menschen dafür zu gewinnen, trotz und in allen emotionalen Schwankungen, ihrer besonderen Ausdrucksweisen und –formen etc., auf den Weg der Liebe mitzunehmen?
Dabei kann es aber nicht darum gehen, sie für einzelne gute Taten zu begeistern. Das darf sicher auch sein. Es geht um Haltung, Kultur und Lebensstil, die sich gründet in Gottes Liebe zu mir. Sie gilt mir leibhaftig, an Körper, Seele und Geist und demnach nicht nur rational, sondern auch emotional. Sie sucht sich selbst ihre Ausdrucksformen, bahnt sich ihre Wege.
Die Jahreslosung 2024 als wunderbare Chance
Ich will mich auf den Weg machen. In festgefahrenen Beziehungen, bei den Menschen, bei denen es mir besonders schwerfällt. Ich werde neu losziehen in diesem Jahr. Und ich will auf meine Gedanken achten, auf mein Reden und mein Tun. Alles – das ist ein großes Wort, aber ich will nicht vorab Ausnahmen definieren.
Alles, was ich tue, soll in Liebe geschehen. Gott macht mich mutig.
Dich auch? Kommst du mit auf diesen Weg der Liebe?
Gott freut sich … und ich mich auch.
Unser kleines Icon kann helfen. Ich will es nutzen. Und mir immer wieder selbst ein kleines Herz in die Hand malen. Machst du mit?
2024 - Alles in Liebe.
Hansjörg Kopp, Generalsekretär
[1] Peterson, Eugene, „die Seele geht zu Fuß“, Gießen 2006
Jahreslosung, CVJM Deutschland, Hansjörg Kopp, Generalsekretär
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